Kapitel Drei: Visuelles Erzählen unter Echtzeitbedingungen als künstlerische Darbietung

From Live Cinema Research

"Do not try to interpret or explain the word rave to someone who has not experienced the pure extasy of being in total harmony with his or her surroundings, i.e. the feeling of safety dancing within a crowd of smiling faces, of the rush of a DJ taking you on a mind trip down into the dark caverns of trance and then up to the highest peeks of spiritual utopia. Do not try to explain. Just tell them to open their minds" DJ Culture s.286 (Flyer Text 1992 Club Nasa)

Neben sozialer Relevanz, und strukturierter Syntax ist ein wesentlicher Aspekt des Live Cinemas die Aufführung selbst. Sie entfaltet die Energie, die man nur in einer Live Umgebung findet. Im Gegensatz zum Kino ist die Aufführung hier nicht von einseitiger Interaktion geprägt, sondern durch Energiefluss und der daraus resultierenden Kommunikation mit dem Publikum. Aufführungen in verschiedenen Umgebungen machen das Live Cinema besonders interessant - erreicht man doch dadurch verschiedenste Menschen mit unterschiedlichsten Ambitionen. Performances haben eine lange Tradition in der Geschichte der Menschheit. Sie verbinden das Vermitteln von Informationen mit einer Unterhaltung. Als Magnet für größere Gruppen von Menschen bilden sie Orte für soziale Kontakte, auch zur Weiterentwicklung eines kollektives Unterbewusstseins. Die Künstler bündeln und dirigieren das Geschehen und kontrollieren, verstärken und lenken die Gefühle - ganz ähnlich dem DJ im Club.


Echtzeit im Raum - Energie, Interaktion und Kommunikation

[1]Even so, Theater occupies a much higher place on the imaginal Scale than other & later media such as film. At least in theater actors & audience are physically present in the same space together, allowing for the creation of what Peter Brook calls the "invisible golden chain" of attention & fellow-feeling between actors & audience--the well-known "magic" of theater. With film, however, this chain is broken. Now the audience sits alone in the dark with nothing to do, while the absent actors are represented by gigantic icons. Always the same no matter how many times it is "shown," made to be reproduced mechanically, devoid of all "aura, " film actually forbids its audience to "participate"--film has no need of the audience's imagination. Of course, film does need the audience's money, & money is a kind of concretized imaginal residue, after all.

Warum soll ein Film live aufgeführt werden? Es ist das Direkte, Sofortige und Unmittelbare, was es einem auftretenden Künstler erlaubt, einer Performance eine nicht wiederholbare Individualität zu geben. Diese wiederum macht Momente der Performance zu einer ganz speziellen Erfahrung für die Anwesenden. Diese Erfahrung ergibt einen Rückkopplungsmechanismus zwischen Auftretenden und "Konsumenten". Es entsteht ein Energiefluss, der nur erfahren, aber nicht gemessen werden kann. Diese Energie wiederum erzeugt etwas, das als kollektive Erfahrung beschrieben werden kann und durchweg in allen Kulturen der Menschheitsgeschichte ein wesentlicher Teil der Gesellschaft war. Das Ritual ist eine Form der Performance, die sich fast ausschliesslich mit der kollektiven Erfahrung und dem Erzeugen von Energie auseinandersetzt. Rituale finden sich bei den amerikanischen Urvölkern genauso wie bei den alten Germanen, Ägyptern oder Chinesen. Hierbei ist es interessant anzumerken, dass klassische Rituale meist mit Musik, Tanz und Narration in Verbindung stehen (der Indianische Schamane erzählt vom Regengott, während sein Stamm um das Feuer tanzt, der hypnotisierende Gesang der tibetanischen Buddhisten, meist mit rhythmischen Trommeln untermalt, erzählt vom Weg ins Nirwana und den alten Göttern der Hochebene) - ähnlich wie bei einer Live Cinema Aufführung auch. Die spirituelle Energie, die zwischen, in und um Menschen herum existiert, hat auch in den ältesten Völkern einen Namen (China: Qi, Indien: Prana und Kundalini, Ägypten: Ka, Kabbala: Yesod, Sufi: Baraka). Es wurde seither versucht, diese begreiflich zu beschreiben, sichtbar zu machen - meist ohne Erfolg, da sich das Phänomen auf einer subtilen gefühlten Ebene abspielt.

[2] VJ Holly Daggers: "Energy" is such a bogus word that is supposed to mean so much, but I don't have a better word for the synergizing effect that you can feel when a crowd is sharing emotions -- a mass empathy (but that sounds so sci-fi).

Es ist wie Jungs kollektives Unterbewusstsein, das durch ein Ritual in Form der Energie ans Tageslicht tritt. Die kollektive Wahrnehmung erkennt archetypische Muster, welche bestimmte Gefühle auslösen, die im Individuum Energie freisetzen und die diese Energie in der Gruppe durch Ekstase (Wikipedia: Zustandsveränderung des Bewusstseins zu gleichermaßen höchster Hingabe und höchstem Aufnahmevermögen) in verstärkter Form sichtbar machen.

“Energies are hidden away: they are not in the same dimension as the things we touch, handle, see, measure.” Bennet, 1964 Pg 32.

Zum Erzeugen dieser Energie bedarf es aber einiger Grundvoraussetzungen. Zuerst ist es die Erwartungshaltung der Anwesenden - sowohl Künstler als auch Gast - die eine Aufführung beeinflusst. Die Ankündigung (Flyer, Pressemitteilung, Radioankündigung etc. etc.) zum Ereignis erzeugt bei allen Beteiligten eine gewisse Erwartungshaltung. Der Künstler bereitet sich auf Grundlage der in der Ankündigung durchschimmernden Grundstimmung auf die Aufführung vor, die Fantasie kreiert bei den Gästen eine Stimmung, die entweder einen Anreiz schafft, sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen, oder ein Desinteresse hervorruft. Beim Betreten des Raumes der Aufführung trifft diese Erwartungshaltung das erste Mal auf die Realität. Der Raum der Aufführung setzt den Grundakzent der Performance - ein niedriger kleiner Raum mit Sofas, Plüsch und rotem Licht werden die Anwesenden in eine andere Stimmung versetzten als eine dreckige, riesige Fabrikhalle mit viel Beton, Stahl und kaltem Neonlicht. Enstpricht das Ambiente der Grundstimmung von Performer und Publikum, ist eine Grundlage der Kommunikation geschaffen, auf die der Abend aufbauen kann. Im Idealfall ist der Raum zusammen mit den Aufführenden gestaltet worden, um einen homogenen Gesamteindruck zu erzeugen.

An dieser Stelle muss, im Bezug zum Live Cinema, auch die Projektionsfläche selbst erwähnt werden. Es gibt beim Medium VJ generell drei Ideale was die Leinwand selbst angeht. Die einen proklamieren eine integrative "immersive" Umgebung. Sie wollen, dass die Visuals den gleichen Stellenwert haben wie die Musik und man ihnen nicht entfliehen kann. 360 Grad Projektion, "Black Box Clubbing" und holographische Projektionen sind die Schlagworte, mit denen diese Gruppe um Aufmerksamkeit ringt - alle Versuche in die Richtung können jedoch nicht überzeugen - eine "echte" virtuelle Realität, mit der jeder individuell interagiert, kann diesem Konzept eventuell zum Durchbruch verhelfen, die althergebrachten VJ Konzepte können hier allerdings nicht überzeugen und erzeugen vor allem eines - eine Überlastung der Sinneswahrnehmung und Stress. Der zweite Ansatz ist es, die Projektionsleinwand in der Dekoration zu verstecken, möglichst das Quadrat, das die Leinwand bildet, aufzuheben. Dass dies dem Begriff "Bewegtbildtapete" nahe kommt, ist unübersehbar. Die Bilder werden zur Dekoration und ordnen sich dadurch dem Gesamteindruck unter - ein Live Cinema ist in einem solchen Ambiente schwer vorstellbar, eine nicht rechteckige Projektionsfläche verdeckt permanent Teile des Bildes, was zu einer weiteren Einschränkung des Künstlers führt. Einzige Ausnahme könnte ein Film sein, der mit dieser Dekoration spielt und sie benutzt - dadurch verliert der Künstler aber die Flexibilität, diesen Film ausserhalb eines solchen Ambientes aufzuführen. Die besten Lösung ist wohl, die Projektionsfläche so zu integrieren, dass sie in das Gesamtambiente passt, sie aber nicht zu verstecken und möglichst an der Stelle im Club anzubringen, die am meisten Aufmerksamkeit erfährt. Der beste Platz ist meist über oder hinter den Aufführenden. In einem geschickt eingerichteten Club kann er aber auch einen anderen Punkt einnehmen und so einen Gegenpol zur Energie der Künstler bieten. Dass die Projektionsfläche dabei immer rechteckig ist, muss nicht störend sein. Sie ist ein Fenster, welches den Blick in eine andere Welt öffnet. Es ist der Geist, dem es erlaubt ist, in diese Welt einzutauchen. Für den Körper gibt es den realen Raum.

Entspricht das Ambiente mit integrierter Leinwand also den Erwartungshaltungen, dann sind alle Anwesenden gleich eingestellt und es gibt eine Basis für die weitere Interaktion und Kommunikation. Nachdem Publikum und Künstler mit dem Raum in Einklang gekommen sind, wird die Musik einsetzen. Von diesem Moment an stehen alle Anwesenden in einer stillen Kommunikationsschleife, welche die Energien im Raum als Trägermedium benutzt. Die Musik beginnt, der Live Cinema Artist (LCA) wird daraufhin anfangen, die Musik zu interpretieren und entsprechende Bilder seiner Geschichte zu spielen. Das Publikum wird in emotionale Schwingung versetzt und strahlt nun entsprechende Energien aus, die wiederum sowohl beim Musiker als auch beim LCA ankommen und von dort aus in Musik und Bild umgesetzt werden. Das wiederum erzeugt ein Feedback zurück zum Publikum. Es kommt davon noch mehr in Wallung, ein Aufbauschen der Gefühle bis hin zu einem Klimax - bestenfalls zeitgleich mit Klimax in Musik und Geschichte - ist die Folge. Dieser Klimax kann sowohl von positiver Energie (Liebe, Freude) als auch negativer Energie (Aggression, Angst, Langeweile) erzeugt werden. Die aufführenden Ton- und Bildkünstler entwickeln während der Performance ein Gefühl für die Stimmung im Publikum und passen ihre Kunst an dieses Gefühl an - so weit dies möglich ist. Dies ist der größte Vorteil einer Live Präsentation: es ist das einmalige Erlebnis und das Gefühl, dabei gewesen zu sein, als die Gefühle in Fahrt kamen, das gemeinsame Erleben der Kraft des kollektiven Unterbewusstseins. Es handelt sich eindeutig um eine schwer klassifizierbare Form der Kommunikation und die Künstler agieren als Moderatoren, nehmen die Themen (Energien und Gefühle) auf, verpacken sie in eine neue Form und stehen zur weiteren Diskussion. Hierin sind die Künstler wie die Schamanen oder Priester, die äußere Energie zum Massen-Meditieren bündeln können.

The goals of Immediatism lie somewhere along the trajectory described roughly by these three points (Pygmies, Plains Indians, Balinese), which have all been linked to the anthropological concept of "democratic shamanism." Creative acts, themselves the outer results of the Inwardness of imagination, are not mediated & alienated (in the sense we've been using those terms) when they are carried out BY everyone FOR everyone--when they are produced but not reproduced--when they are shared but not fetishized. Of course these acts are achieved thru mediation of some sort & to some extent as are all acts--but they have not yet become forces of extreme alienation between some Expert/Priest/Producer on the one hand & some hapless "layperson" or consumer on the other. [3]

Die Künstler müssen, um einen Energiefluss zu gewährleisten, sich dem Geschehen und dem Publikum gegenüber aber sichtbar öffnen. Es ist zwar möglich, mit ekstatischen Körperbewegungen die Verbindung mit den Gästen auszudrücken, aber auch schon das bewusste Dabei-Sein, das Publikum anzuschauen und mit minimalen Gesten diese Anwesenheit sichtbar zu machen reicht aus, um eine erfolgreiche energetische Kommunikation aufrecht zu erhalten. Das übereifrige Bewegen lenkt von den Bildern ab und sollte in diesem Kontext nicht mit den Emotionen, die über Bild und Ton erzeugt werden, mithalten.

"Actually the most descriptive term for the new cinema is "personal" because it's only an extension of the filmmaker's central nervous system." expanded cinema p.82

Der Live Cinema Künstler übersetzt seine Gefühle eher in die Bilder, als dass viel Zeit für seinen Körper übrig bleiben würde. Er nimmt in dieser Situation eine Stellung ein, die einem Priester, Schamanen oder einem Medium gleicht, das die Sorgen, Wünsche, Hoffnung des Publikums auszudrücken fähig ist. Auch der Geschichtenerzähler, der vor der Geburt des Kinos die Marktplätze beherrschte, war ähnlich unmittelbar und fesselte mit direkter Energie, die nur in einer Echtzeitumgebung und der daraus resultierenden Kommunikation entstehen kann.

Das Happening und sein Ort

Live Cinema - Happening und Performance Kunst - kann nicht nur flexibel auf die Energie im Raum Bezug nehmen, sondern sich auch auf verschiedenste Auftrittszenarien einstellen. Jeder Raum, der Musiker und eine Leinwand beherbergen kann, ist im Prinzip für eine Live Cinema Performance geeignet. Eine solche Darbietung ist somit in fast allen öffentlichen Orten vorstellbar, jedoch sind einige Möglichkeiten durch bereits bestehende Infrastruktur und eine interessierte Zielgruppe besser geeignet, solche Aufführungen zu realisieren. Zu allererst muss in diesem Zusammenhang das Kino selbst genannt werden. Wie in Kapitel Eins dargelegt, wird es für die Kinobesitzer immer schwieriger, Gäste in die riesigen Häuser zu bekommen. Oft erlebt man heutzutage, dass man in einem Kinosaal sitzt, wo es noch zwei weitere Gäste gibt und etwa 200 - 300 leere Sitze. Es ist schwer vorzustellen, dass diese Auslastung auch nur für den Strom für den Projektor aufkommen kann, geschweige denn einen Kinosaal heizen, die Kosten für die Filmkopie tragen oder den Kartenabreißer und Taschenkontrolleur bezahlen kann. Nun will Live Cinema aber dem Kino auch ein Erlebnis der Kommunikation unter den Gästen bieten und dazu ist der starre dunkle Kinosaal mit den zum Schlafen einladenden Plüschsitzen nun leider überhaupt nicht geeignet. Diesen Örtlichkeiten ist es anzumerken, dass sie nur für einen einseitigen diktatorischen Energiefluss von der alles überragenden Leinwand zum passiven Publikum konzipiert wurden. Jedwede Störung des virtuellen Kinoerlebnisses soll durch absolute Dunkelheit und unkommunikative Sitzanordnungen unterbunden werden. Jedoch kann davon ausgegangen (und bereits beobachtet) werden, dass durch den finanziellen Druck gerade kleinere Kinobetreiber hier zuerst ansetzen, um ihre Örtlichkeiten auch anderen Konzepten zugänglich zu machen. Die Kinos werden "loungiger" mit Tischen und Couchen ausgestattet. Die Atmosphäre wird generell aufgelockert und die Einrichtung dynamisch an verschiedenste Szenarien anpassbar gemacht. Zusammen mit Bühne und Leinwand und Sourround PA, die in einem jeden Kino als Standard vorhanden sind, bietet sich hier ein attraktives Betätigungsfeld für Live Cinema Künstler. Die Kinobesitzer müssen in der derzeitigen Situation allem gegenüber aufgeschlossen sein, um ihr Haus zu bevölkern, die Kinobesucher wollen offensichtlich neue Konzepte, aber trotzdem Geschichten in visueller Form. Das Kinoerlebnis wird wesentlich aktiver, kommunikativer und energetischer. Es kann damit wieder ein Ort des Happenings, der aktiven, multidirektionalen Kommunikation werden, angefüllt mit Energie und Gefühl, modern im Aussehen, erhaben in seiner Historie und ein wenig zurück zu den Wurzeln finden - Stummfilme kommen dem Erlebnis, das Live Cinema bietet, sehr nahe - auch dort war Konzert und Film eine Einheit, konnte jedoch damals bei weitem nicht so flexibel auf die Umwelt reagieren und mit den Energien "spielen", wie es beim Live Cinema möglich ist.

Neben dem Kino ist auch der Club ein Ort, wo natürlich Live Cinema Aufführungen stattfinden können. Die Clubs dieser Welt könnten unterschiedlicher nicht sein. Es gibt ruhige, schicke, dreckige, harte oder glamouröse Clubs. Sie sind groß, hoch, klein, innen oder an der frischen Luft. Sie spielen von klassischer Musik bis zum härtesten Underground alles, was Musik ist. Interessant ist aber, dass, egal wie der Club aussieht oder welche Gäste er beherbergt, Live Cinema flexibel genug ist, um auf so ziemlich alle Situationen reagieren zu können. Jedoch kann man Live Cinema nicht so einfach mitten während eines Clubabends spielen, ohne die Gäste darauf vorzubereiten. Es würde den Fluss des Abends unterbrechen, die Erwartungshaltung der Anwesenden konfrontieren und zu Ressentiment führen. Damit würde jegliche Grundlage für ein gemeinsames Erleben entzogen und die Kommunikation zwischen Aufführenden und Publikum nicht zustande kommen. Eine solche Performance muss in den Clubabend integriert werden und die Gäste über das Happening aufgeklärt werden. Es könnte in einem separaten Raum (z.B. Chill Out Floor) stattfinden, es besteht die Möglichkeit, es zur Eröffnung des Clubs aufzuführen - eine Zeit, die frühe Gäste meist lästig finden und in der ein normaler VJ die meiste Aufmerksamkeit bekommt. Aber auch mitten während der Veranstaltung - zur Hauptzeit - ist es vorstellbar, eine Live Cinema Performance wie einen Live Act einzufügen - dies sollte aber aus oben genannten Gründen auf ein vorbereitetes Publikum treffen.

Der Clubatmosphäre nahestehend, aber strukturell besser für eine Live Cinema Performance geeignet, ist das Konzert. Es hat im Gegensatz zu vielen kleineren Clubs einen Fokussierungspunkt, der dem eines Kinos entspricht - die Bühne. Im Wesen ist es der Live Cinema Performance schon sehr nahe. Es erzeugt multidirektional Energie, Kommunikation zwischen Künstlern und Publikum ist so ausgeprägt wie in kaum einer anderen populären Medienform. Die Zeitspanne ist eingegrenzt und der Veranstaltungsverlauf auf maximale energetische Wirkung ausgelegt. In einigen Konzerten werden bereits Projektionsflächen installiert, um entweder die Bühne noch einmal zu zeigen oder das Gefühl der Musik zu unterstützen (VJing). In Ansätzen sind manchmal bereits Narrationen erkennbar - meist aus dem zum Song zugehörigen Musikvideo - jedoch steht in der Musikindustrie der Star dermaßen im Vordergrund, dass solche Ansätze immer sehr minimal und abstrakt gehalten werden. Nichtsdestotrotz ist eine Live CInema Aufführung in einem Konzertrahmen sehr gut vorstellbar. Es wird dem Konzertansatz selbst nichts genommen. Immer noch sind Bühne, Kommunikation der Künstler mit dem Publikum, Kommunikation des Publikums untereinander, Energie-Feedback vorhanden, jedoch kommt eine visuelle Ebene der Gefühlsvermittlung hinzu, eine Ebene, in der man Musik mit einer deutlichen Aussage verhelfen kann und die auch das Gefühl der Musik unterstützt. Verloren geht eigentlich nur das visuelle Zentrum "Star".

Neben diesen eindeutigen Orten gibt es sicherlich noch Unmengen von anderen Gelegenheiten, ein Live Cinema Stück aufzuführen. Ob auf öffentlichen Plätzen (wie die Marktplätze der Geschichtenerzähler), auf Kundgebungen, im Theater, in der Bar um die Ecke - die Auswahl ist kaum einzuschränken. Dabei kann der Ort das Gefühl des Filmes beeinflussen, ihn unmittelbar erlebbar machen, ihm durch den veränderten Kontext auch eine andere Aussage verleihen oder der Örtlichkeit ein neues Gesicht verleihen.


Improvisation und Kooperation

"In the long history of humankind (and animalkind too) those who learned to collaborate and improvise most effectively have prevailed" - Charles Darwin

Ebenfalls wichtig für funktionierende Energie im Raum ist die Kooperation zwischen Musiker und Bildermacher. Während beim VJing sich der Künstler fast ausschliesslich nach der Musik richtet (auch bei A/V Acts), kann die Zusammenarbeit zwischen beiden Medien eine neue Dimension einnehmen. Sicherlich hat die Musik im Raum durch ihre Omnipräsenz auf den ersten Blick einen höheren Stellenwert, jedoch können die Bilder auch die Musik beeinflussen - sie haben ja auch einen maßgeblichen Anteil an der erzeugten Energie und dem Gefühl im Raum. Wie funktioniert aber die Kooperation zwischen bildlicher und auditiver Seite? Immerhin müssen Tempi, Rhythmus, Gefühl und dramaturgische Momente in Einklang gebracht werden. In einem einseitigen Verhältnis reagiert eine Seite auf die andere, indem sie Vergangenes analysiert, mit dem Momentanen vergleicht und eine Prognose für den weiteren Verlauf abgibt, an der sich orientiert werden kann. Beim VJing ist dies bei gutes VJs sehr schön zu beobachten, wenn dieser einen musikalischen Höhepunkt bereits acht Takte voraussehen kann, sich die richtigen Loops zurechtlegt und diese im richtigen Moment zusammen mit der Musik mit einem lauten, visuellen Knall auf die Leinwand zaubert. Bei einem zweiseitigen Abhängigkeitsverhältnis ist dies nun nicht mehr so einfach. Der Musiker könnte in einem solchen Moment auch auf ein visuelles Signal warten und seinen auditiven Höhepunkt ein paar Takte hinauszögern. Es gibt aber die Theorien der Improvisation, aus dem Jazz und aus dem Improv Theater, die einen Einblick geben, wie der Raum unter Einbeziehung aller Beteiligten zu einem Gesamten verbunden werden. Wie die Energie auf die Künstler wirkt und dadurch eine Kommunikation entsteht, wurde bereits beschrieben, die Künstler können aber untereinander nicht nur auf die Energie des Raumes bauen, um in Bezug treten.

Die Improvisation im Jazz involviert laut Berliner: "reworking precomposed material and design in relation to unanticipated ideas conceived, shaped and transformed under the special condition of performance, thereby adding unique features to every creation".

Das klingt fast wie eine Beschreibung der syntaktischen Aufführungstechniken des Live Cinema. Doch wie funktioniert die Improvisation im Jazz genau. Zum einen wird hier auf den temporalen, kognitiven Prozess gesetzt. Das heißt, um zu konzeptionieren, was artikuliert werden soll, wird auf den Erinnerungen des bereits Gespielten aufgebaut. Dabei kommen sowohl die Erfahrungen aus früheren Aufführungen ins Spiel, als auch die der gegenwärtigen. Neben dem Benutzen von bereits gelernten Mustern ist dem Jazz aber zu eigen, dass auch spontane Kreativität eine fortwährende Evolution eines Stückes garantieren. Diese Kreativität setzt auf vorhandene Motive, die in abgeänderter Form gespielt werden, diese Muster können dann beidseitig erkannt werden. Der temporale Prozess kann auch beim improvisierten Theater beobachtet werden. Jedoch bieten sich hier auch noch andere Konzepte welche helfen können, die Funktionsweise der Improvisation zu erklären.

"They balance strategy and spontaneity in the face of uncertainty, working collectively to create a sustained, engaging story that works. They often work without the benefit of specific planning, must incorporate unexpected inputs thrown in from left field, and have to adapt rapidly to new contexts. " (Improv Culture, p30)

Die Problemstellung erinnert auch wieder deutlich an eine Live Cinema Aufführung - wo es beim Jazz jedoch mehr um Rhythmik und Timing geht, ist hier der Bezug eher zur Geschichte und Dramaturgie zu sehen. Das Improvisation Theater funktioniert vor allem durch das Annehmen von Offerten. Ein Schauspieler (oder sogar das Publikum) überlegt sich eine Ausgangssituation, von der aus eine Geschichte improvisiert wird. Dabei geht es vor allem darum, die anderen Schauspieler gut aussehen zu lassen, anstatt sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen - nur dann kann diese Art der Performance funktionieren. Im Wechsel legen die Akteure Krümchen auf den Weg - also machen Angebote für den weiteren Geschichtsverlauf - vom nächsten Akteur müssen diese dann nur aufgesammelt werden. Ein guter Improvisator versucht, die Angebote anzunehmen ohne dabei zu weit voraus zugreifen und damit die Geschichte offen und interessant zu lassen. Er versucht, so viel wie möglich Umgebung wahrzunehmen, um diese Wahrnehmungen in neuen Kombinationen zu verbinden. Dabei werden hier vor allem zwei zentrale menschliche Fähigkeiten genutzt.

"... the ability to simultaneously hold the overarching needs of a group, person or organization in mind while attending to the minute detail of the present. Executed skillfully, it enables an individual or organization to respond to in-the-minute stimuli in a way that supports overarching goals or directions". (Improv Culture p33)

Es wird also die Grundenergie des Raumes "gelesen", sowohl aus Reaktionen des Publikums, als auch von den Mitstreitern auf der Bühne. Jede Entscheidung über den weiteren Verlauf des Stückes wird mit damit abgeglichen und in der Gegenwart ausgeführt. Der Künstler liest also sein Umfeld, spürt Empfindungen auf, verbindet diese mit dem zu erreichenden Ziel (der Geschichte) und setzt das Ganze dann in der Gegenwart um - sicherlich eine Fähigkeit, die einiger Erfahrung bedarf. Des Weiteren wird - wie auch schon beim Jazz - auf Erfahrungen zurückgegriffen, die teilweise auch im Unterbewusstsein entstehen - die Mustererkennung. Bei der Improvisation gibt es keine klar formulierten Formeln, die immer und überall angewandt werden können. Es ist vor allem die Analyse des Vergangenen, der gegenseitige Respekt, das Eröffnen von Möglichkeiten für die andere Seite, das Erfühlen des Moments, das Erkennen einer Gelegenheit und die Courage, diese zu nutzen, was eine erfolgreiche Improvisation mit mehreren Beteiligten erlaubt. Eine subtile Körpersprache wie bei Jazzmusikern zu beobachten, reicht bei guten Improvisatoren aus, um bestimmte wichtige Einsätze zu erreichen. Beim Live Cinema ist es auch noch das Grundverständnis für das jeweils andere Medium, was einer erfolgreichen, kooperativen Performance zugute kommt. Beide Seiten sollten mit dem Material und den Möglichkeiten des Anderen vertraut sein. Neben aller live Improvisation ist auch das gemeinsame Proben eine gute Gelegenheit, Muster abzuspeichern und ein Verständnis für das Andere zu entwickeln, um dann bei einem Live Auftritt sicherer variieren zu können.


Nicht benutzte Zitate:


"With recording technologies, both music and film have lost the magic of the presence, the instant, the contruction, the performance." "Live Cinema: Designing an Instrument for Cinema Editing as a Live Performance" Michael Lew

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